Was viele Ärzte schon lange befürchtet haben, ist jetzt wahr geworden. Das ist seit vergangener Woche klar. Auch in deutschen Tierställen ist eine neue Generation von Keimen herangewachsen – Bakterien, gegen die alle vier Antibiotika-Gruppen machtlos sind.
Verbraucher können sich über Lebensmittel infizieren
Bei Untersuchungen in drei Schweineställen und einem Hühnerstall haben Forscher des Bundesinstituts für Risikoforschung (BfR) jetzt multiresistente Keime nachgewiesen, gegen die selbst Reserve-Antibiotika nicht mehr helfen. Sie werden „4-MRGN“ genannt – „Multiresistente Gramnegative Erreger“ mit Resistenzen gegen vier Antibiotikaklassen. Verbraucher könnten sich über Lebensmittel, die vom Tier gewonnen werden, oder über direkten Kontakt mit Tieren infizieren, warnt das BfR. Und: „Die Einschleppung solcher Keime in Krankenhäuser könnte schwerwiegende Folgen haben.“
Multiresistente Keime, die in der Tierhaltung entstehen, schwimmen im Auftauwasser von gefrorenen Hähnchen. Sie kleben an rohen Putenbruststücken. Sie verstecken sich im Mist von Schweinen und Rindern. Einige schwirren mit der Abluft aus den Ställen und landen sogar auf nahen Feldern. Dort bleiben sie an Salat und Gemüse haften. Und sie verteilen sich so immer weiter. Manchen Menschen schadet der Kontakt mit den Erregern nicht. Für manche kann er aber den Tod bedeuten.
Besonders immunschwache und alte Menschen sind gefährdet
Gefährdet sind Menschen, die ohnehin schon schwach sind. Säuglinge, Alte, Schwerkranke und Menschen, die gerade eine Operation hinter sich haben. Diese Patienten sind vor allem in den Intensivstationen der Krankenhäuser zu finden. Sie liegen dort im Dämmerschlaf, einige nur ein paar Stunden, andere aber tage- oder wochenlang. Viele von ihnen hängen an Schläuchen: Sie bekommen Medikamente verabreicht. Manche werden künstlich beatmet. Manche werden per Magensonde ernährt. Die meisten haben frische Wunden. Und, eben deshalb, sind ihre Körper oft viel zu schwach, um sich selbst gegen bakterielle Infektionen zu wehren. Normalerweise helfen dann Antibiotika. Sind die Keime aber resistent, funktioniert das nicht.
Heimtückische Biester mit ziemlich dicker Haut
Solche multiresistenten Keime sind in den Krankenhäusern seit langem ein Problem. Sie entstehen überall da, wo oft und viele Antibiotika zum Einsatz kommen. Denn die Krankheitskeime sind heimtückische Biester. Wenn sie mit den Medikamenten in Berührung kommen, lernen sie nach und nach, wie diese wirken. Dann entwickeln sie sich weiter. Sie legen sich eine dickere Haut zu – und lassen sich nicht mehr so einfach zurückdrängen.
Die häufigsten Arten dieser resistenten Keime sind „MRSA“, die vor allem in der Nase zu finden sind, und „MRGN“, zu denen unter anderem Darmbakterien gehören. Infektionen mit diesen mutierten Bakterien gelten schon seit Jahren als eines der größten Probleme des Gesundheitswesens. Und: „Diese Art der Infektionen hat in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen“, heißt es beim Deutschen Zentrum für Infektionsforschung.
15 Prozent der Infektionen in Krankenhäusern entstehen durch MRGN
Laut einer Hochrechnung der 2012 veröffentlichten Alerts-Studie des Sepsiszentrums der Universität Jena erkranken in Deutschland 4,3 Prozent aller Krankenhauspatienten während ihres Aufenthaltes an einer Infektion. Dies entspricht jährlich zwischen 400 000 und 600 000 Fällen. 10 000 bis 15 000 der Patienten sterben an den Folgen. 15 Prozent der Infektionen werden der Studie zufolge durch multiresistente Krankheitserreger verursacht.
Ärzte fordert Verbot von Massentierhaltung
Die meisten Probleme machen seit Jahrzehnten resistente Keime, die unter der Behandlung mit Antibiotika in den Krankenhäusern selbst entstehen. Seit ein paar Jahren bekommen diese Erreger aber gefährliche Gehilfen, die in Schweineställen und Geflügelhöfen heranwachsen. Denn etwa 85 Prozent aller Antibiotika werden in der Veterinärmedizin eingesetzt. Das haben Bayerns Ärzte schon im Herbst auf ihrem Ärztetag in Bamberg öffentlich vorgerechnet. Einstimmig forderten die Mediziner deshalb, die Massentierhaltung „zeitnah“ zu verbieten. Nur so könne verhindert werden, dass sich in der Landwirtschaft weitere multiresistente Bakterienvarianten entwickeln, die Menschen gefährden.
„Das Problem ist, dass in der Tierhaltung genau dieselben Medikamente eingesetzt werden wie bei Menschen – aber mit deutlich weniger Zurückhaltung“, sagt der Oberarzt für Anästhesie am Zentralklinikum Augsburg, Dr. Florian Gerheuser. „Wenn wir das so weiterlaufen lassen, endet das in einer Katastrophe“, sagt auch der Chefarzt der Neuroanästhesie am Günzburger Bezirkskrankenhaus, Dr. Dirk Repkewitz. Gemeinsam mit zwei Kollegen aus München haben die beiden das Votum des Ärztetages gegen Massentierhaltung formuliert.
„Die meisten Antibiotikaresistenzen stammen nachweislich aus der Humanmedizin“, wehrt sich dagegen der Bundesverband praktizierender Tierärzte. „Grundsätzlich“, heißt es aber in einer Stellungnahme, befürworte man es, „den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung weiter zu reduzieren, um der Entstehung und der Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen entgegenzuwirken“.
Ist ein Tier krank, werden alle Tiere mit Antibiotika behandelt
Denn bei Hühnern, Puten, Schweinen oder Rindern in Gruppenhaltung „werden häufig alle Tiere behandelt, um eine Ausbreitung der Infektion von kranken Tieren hin zu noch gesunden Tieren in der Gruppe zu verhindern“, stellt das BfR fest. Tierärzte in Deutschland verdienen mit dem Verkauf von Medikamenten Geld. 1619 Tonnen Antibiotika wurden allein im Jahr 2012 an tierärztliche Hausapotheken in der Bundesrepublik ausgegeben. Puten, Hühner, Schweine und Rinder in den Ställen werden oft gemeinsam gefüttert. Ist eines der Tiere erkältet oder hat einen Magen-Darm-Infekt, mischen die Landwirte Antibiotika ins Futter. Das fressen dann auch die gesunden Tiere.
Masthähnchen, die durchschnittlich nur 39 Tage leben, werden so laut einer Statistik des BfR an zehn Tagen mit Antibiotika gefüttert. Schweine, die etwa dreieinhalb Monate lang leben, bekommen die Medikamente demnach im Schnitt an vier Tagen. Milchkühe werden innerhalb eines Jahres an 3,5 Tagen mit antibiotischen Wirkstoffen behandelt, Kälber bis sechs Monate an 1,2 Tagen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Tiere mit resistenten Keimen infiziert sind, ist hoch: 90 Prozent der Hähnchen und Puten tragen laut BfR schon solche Erreger in sich. Bei den Mastkälbern sind es demnach 83 Prozent, bei den Schweinen 77 Prozent, bei Rindern mehr als 20 Prozent.
Im Auftauwasser von tiefgefrorenen Hähnchen
Die Tiere scheiden die resistenten Erreger über den Darm aus. Mit dem Dünger gelangen die Keime auf die Felder. Forscher der tierärztlichen Hochschule Hannover haben nachgewiesen, dass sie im Stallstaub über die Schornsteine nach draußen wehen und sich auf den Feldern verteilen. Sie verbreiten sich aber auch über rohes Fleisch. Selbst in Tiefkühlware sind sie überlebensfähig.
Im Auftauwasser von jedem dritten untersuchten tiefgekühlten Masthähnchen wiesen Forscher des Robert-Koch-Instituts multiresistente Bakterien nach. Das Bundesinstitut für Risikobewertung entdeckte solche Keime auf allen untersuchten Frischfleischsorten. Besonders oft betroffen ist Geflügelfleisch (22 Prozent), bei Putenfleisch wurden die Wissenschaftler sogar in 42 Prozent der Fälle fündig.
Landwirte wehren sich
„Wir müssen den Einsatz von Antibiotika in allen Bereichen reduzieren“, sagt auch der Präsident des Bayerischen Bauernverbandes, Walter Heidl. Die meisten dieser Keime würden in Krankenhäusern entstehen, betont er. Das Problem in der Massentierhaltung zu suchen, hält er für „schlichtweg falsch“. Heidl argumentiert so: Wer will, dass weniger Antibiotika eingesetzt werden, braucht gesündere Tiere. Die Tiergesundheit hängt vor allem auch davon ab, wie sauber die Ställe sind. Die Hygienestandards seien aber gerade in großen Betrieben oft viel besser als in kleinen Landwirtschaften. Weder von großen noch von kleinen Betrieben könne man aber verlangen, auf den Einsatz von Antibiotika zu verzichten, sagt Heidl: „Wenn Tiere krank sind, müssen sie doch behandelt werden.“
Bisher gab es solche Fälle nur bei Patienten aus dem Ausland
Weil Landwirte ständig Kontakt mit Tieren haben, ist bei ihnen laut einer niederländischen Studie die Wahrscheinlichkeit 138 Mal höher als bei anderen Menschen, dass sie multiresistente Keime an sich tragen. Menschen, die in Tiermastbetrieben arbeiten, gelten deshalb in manchen Krankenhäusern schon als Risikopatienten.
Etwa ein bis zwei Prozent der MRSA-Patienten in Deutschland tragen laut Uniklinikum Münster tier-assoziierte Keime in sich. Auch Patienten, die mit „4-MRGN“ infiziert sind, gibt es in Krankenhäusern seit ein paar Jahren immer wieder. Ein Fall, in dem solch ein Keim aus einem deutschen Stall eingeschleppt worden ist, ist bisher aber noch nicht öffentlich bekannt. „Solche vierfach resistenten Erreger sind glücklicherweise noch eine absolute Rarität“, sagt Chefarzt Dr. Reinhard Hoffmann, der Leiter des Instituts für Mikrobiologie am Augsburger Klinikum. Er kann sich nur an „vereinzelte“ Fälle erinnern, in denen Patienten solche Keime aus dem Ausland mitbrachten. Die Lage sei an der Uniklinik Ulm ähnlich, sagt auch die Leiterin der dortigen Sektion Klinikhygiene, Prof. Dr. Heike von Baum. Doch beide sind sich einig: „Man muss das Thema jetzt angehen, sonst bekommen wir in einigen Jahren große Probleme.“
Letztes Gegenmittel: Medikamente mit gefährlichen Nebenwirkungen
Denn wenn die Keime selbst den Reserve-Antibiotika widerstehen, die Mediziner als letztes Mittel bereithalten, bleibt derzeit nur noch der Griff zu Medikamenten, die eigentlich wegen ihrer Nebenwirkungen im normalen Sortiment der Krankenhäuser gar nicht mehr vorkommen. Schaffen die Keime es, sich auch an diese Medikamente anzupassen, wäre auch die letzte Waffe im Kampf gegen die Bakterien verloren.